Ideale

Ideale erscheinen mir als die ethischen Maxima einer Kultur. In unserer frühesten Kindheit wurden wir angehalten, uns mit diesen Idealen zu identifizieren. Gerechtigkeit, Leistung, Fairness, Mut, Nationalismus, Redlichkeit, Ehre, Ehrlichkeit, Freiheit, Einigkeit und Treue sind nur einige dieser Ideale. Ideale gleichen in ihren Wirkungen Vorsätzen, die wir immer weniger erreichen, je mehr wir es versuchen. Und je weniger wir Vorsätze oder Ideale erfüllen können, umso intensiver wächst unser schlechtes Gewissen und Angst und mit diesen Beiden das Motiv Vorsätze oder Ideale zu erfüllen. Die Ideale, die ein Vereinsmeier oder Beamter in seiner Kindheit übernahm unterscheiden sich intensiv von denen eines Punkers oder eines Rockers. Solange unsere Ideale nicht gefährdet erscheinen, fühlen wir uns wohl und haben keine Angst oder Aggression. Jedoch beunruhigt uns bereits die Existenz von Gruppen mit anderen Idealen als unseren eigenen. Massive Angst oder Aggression entsteht jedoch in uns, wenn die Ideale der anderen Gruppe unsere eigenen Ideale gefährden. Punker und Vereinsmeier haben sehr selten miteinander zu tun. Die Unterschiedlichkeit der Ideale beider Gruppen verursachen in den Mitgliedern beider Gruppen jedoch intensive Aggressionen und wüste Beschimpfungen der jeweiligen Gegengruppe. Ein Feindbild ist entstanden. Feindbilder entstehen umso leichter, je mehr eine Idealidentifikation besteht, die mit anderen Idealidentifikationen konfrontiert wird. Besteht nun keine Distanzierungsmöglichkeit zwischen Menschen unterschiedlicher Idealidentifikationen, so ist Krieg fast unausweichlich. Keiner der mir bekannten Kriege verlief ohne Idealidentifikation und daraus resultierenden Feindbildern. Das Prinzip scheint immer das selbe zu sein, ob Kleinkrieg innerhalb einer Familie oder ein Krieg zwischen Staaten.

Auch die Schuldempfindung ist eine Angstform, die mit der Identifikation mit unseren Rollen zu tun hat. Sobald wir uns zum Beispiel mit der Rolle eines Ehemannes identifizieren, übernehmen wir auch die Pflichten, Zuständigkeiten und Rechte eines Ehemannes. Wir haben Erwartungshaltungen über die Dinge, die uns als Ehemann doch zustehen. Wir reagieren mit Aggressionen, sobald die Umwelt, meistens in Form unserer Frauen, unsere Ehemann - Privilegien nicht erfüllt. Sobald wir jedoch eine oder mehrere unserer rollenorientierten Pflichten nicht erfüllen und dadurch jemand leidet, dem oder der die Erfüllung unserer Pflichten zugestanden hätte, fühlen wir unser schlechtes Gewissen und unsere Schuldempfindungen bohren. Normenorientiert versuchen wir nun, unsere unangenehmen, Angst auslösenden Schuldempfindungen dadurch abzubauen, indem wir gezwungenermaßen unsere Pflichten zu erfüllen versuchen. Ähnlich wie unsere Schuldempfindungen sind auch unsere Mitleidsempfindungen erst eine Folge unserer Identifikationen.

Durch die Erklärung der uns anerzogenen, konstruierten Rollen ist das Verständnis der Angst möglicherweise etwas gewachsen. Hier noch einmal die Definition der Angst: Angst ist eine Emotion, die in der Folge einer empfundenen Wertgefährdung entsteht. Die Angst hat den Zweck, den gefährdet erscheinenden Wert zu schützen. Die Angst kann nicht zwischen primärbiologischen, also angeborenen Werten und den uns anerzogenen konstruierten Fremdwerten unterscheiden. Aus einer Gefährdung unserer primärbiologischen Werte resultiert eine konstruktive Verhaltensweise, die den Zweck hat, die Werte Lebensfähigkeit und Lustbefriedigungsfähigkeit zu erhalten. Hingegen verursacht eine Gefährdungsempfindung gegenüber unseren Rollen im Allgemeinen eine destruktive Aggression gegen den scheinbaren Angreifer oder ein Kompensationsverhalten. Und dieses bedeutet für uns und die Umwelt nur Schaden. Wir wenden uns nun der Klärung von Ängsten zu, die ich Eingangs ansprach. Teilen wir diese Ängste zuerst in Gruppen ein. Die erste Gruppe sind die Konstruktivängste. Sie entstehen, wenn einer unserer primärbiologischen Werte gefährdet erscheint. Somit erhalten diese Ängste unsere Lebensfähigkeit und unsere Lustbefriedigungsfähigkeit. Aber auch unsere Konstruktivängste können wir derart verändern, dass sie unsere Lebensfähigkeit und unsere Lustbefriedigungsfähigkeit be- oder verhindern. Wie funktioniert das? Stellen sie sich vor, mit einem Bekannten in die Berge gefahren zu sein. Sie stehen auf einem Hochplateau und genießen die herrliche Aussicht. Einer von ihnen beiden kommt auf die Idee, sich näher an den Rand, nachdem es ca. 800 Meter in die Tiefe geht, heranzuwagen. Unsere Biologie sagt: "Für was sollte ich näher an den Rand gehen? Von hier aus ist die Aussicht ohne Gefahr zu genießen." Die uns anerzogenen Werte sagen: "Stell dir nur vor, was die Zuschauer für Augen über meinen Mut machen werden. Vielleicht kneift mein Bekannter und traut sich nicht so nah an die Klippe ran wie ich? Dann habe ich die Mutprobe gewonnen und steh vor meiner Umwelt saugut da, und ich werde vom positiven Feedback nur noch so überhäuft. Außerdem kann ich jetzt sowieso nicht mehr zurück, wie steh ich denn dann da? Was würden die Leute sagen, wenn ich nun meinen Schwanz einziehe?" Sollte es nun unsere Fremdwertstruktur in uns sein die das Entscheiden dominiert, so werden wir ein Verhalten praktizieren, das unseren biologischen Motiven nicht entspricht. Wir zwingen uns, unsere Angst ignorierend immer näher an die Klippe heran. Mit jedem Schritt in Richtung Klippe steigt unsere Angst. Die primärbiologische Struktur in uns hat die Möglichkeit, die Angst in enorme Höhen hinaufzuschrauben. Irgendwann werden wir die Angst in uns als negativ betrachten, weil sie uns hindert, Verhaltensweisen auszuüben, die positives Feedback einbrächten oder die negatives Feedback vermeinen würden. Und je mehr wir uns zwingen, Dinge zu tun, die unsere biologischen Werte gefährden, um so mehr wird die Angst steigen, die wir immer mehr als negativ und feindlich empfinden müssen. Auf diese Art haben wir es geschafft, aus der Angst, einer unserer freundlichsten und lebenswichtigsten Emotionen einen schrecklichen Feind zu machen, der unser Leben auf oft brutalste Art in der Lage ist, zu zerstören? Je nachdem, zu welcher Verhaltensweise wir uns normenorientiert zwangen, die primärbiologische Werte gefährdete, werden irgendwann auch biologische Verhaltensweisen nicht mehr durchführbar sein. Vor lauter Angst werden wir nicht mehr in die Berge fahren, wir werden nicht mehr unter Menschen gehen, wir werden nicht mehr auf freie Plätze gehen, wir können bestimmte Dinge nicht mehr essen, wir steigen in kein Auto oder Flugzeug mehr, wir machen immer größere Bögen um immer kleinere Hunde. Diese Liste lässt sich noch viel weiter fortsetzen. Und die übliche Angsttherapie spannt den Bogen nur noch weiter. Einzeltherapeutische - und Kollektivgewalten schlagen immer mehr auf die feindlich erscheinenden Ängste ein ohne zu verstehen, dass diese Ängste bereits ein Produkt der Gewalt des Einzelnen sind. Therapie in meinem Sinn heißt, die Hintergründe der Angstignoranz besser verstehen zu lernen. Die Hintergründe liegen immer in den uns anerzogenen konstruierten Rollen und Idealen. Es ist an der Zeit, ein Selbstbewusstsein aufzubauen, das sich wieder mehr an unseren primärbiologischen Werten orientiert, als an den uns anerzogenen, die uns so oft zu Marionetten der Angst machen. Die zweite Gruppe sind die Destruktivängste. Sie entstehen, wenn unsere Rollen oder Ideale angegriffen erscheinen. Diese Ängste versuchen also, die Konstrukte, Rollen oder Ideale aufrechtzuerhalten. Nachdem diese Konstrukte nicht real existieren, können Sie nicht real geschützt oder verteidigt werden. Der Schutzmechanismus beschränkt sich also darauf, Gegenangriffe gegen den scheinbaren Angreifer zu praktizieren oder und unsere gefährdet erscheinenden Rollen oder Ideale zu intensivieren.

 

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Donnerstag, 06. August 2009